Sonntag, 26. November 2006

Aufgabe 6 :: pastperfect.at

hp_pastperfect
Rezension pastperfect.at

Entstanden in enger Zusammenarbeit von WissenschafterInnen und WebdesignerInnen scheint pastperfect.at für all jene, die ihre anfängliche, den Aufbau betreffende Verwirrung lange genug ertragen können, um sich näher mit dessen verwinkelter Struktur auseinanderzusetzen, einen spielerischen Zugang zur europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit zu eröffnen. Nach und nach erschließt sich jedoch eine zweite, selbstreflexive Ebene des Projekts, in die ebenso viel Energie investiert wurde, wie in die Vermittlung von Wissen über historische Ereignisse und Zusammenhänge. In ihr wird die Seite selbst zum Forschungsobjekt, dessen methodologische Prämissen offengelegt werden, das in medientheoretische, philosophische und soziologische Diskurse eingebettet, und in seiner Genese nachvollziehbar gemacht wird.

Im Moment macht pastperfect.at etwa 700 Texte von 60 AutorInnen zugänglich, die Seite ist jedoch für einen kontinuierlichen Ausbau angelegt – ganz im Sinne der Präsentation von Geschichte als unabgeschlossenes Projekt ohne Anspruch auf Vollständigkeit und überzeitliche Gültigkeit.

Navigation: Die aufwendige Flashanimation einer europäischen Landkarte begrüßt die BesucherInnen und offeriert für jedes Jahr zwischen 1492 und 1558 mehrere reale Orte, denen jeweils ein historisches Ereignis zugeordnet ist. Ein kurzer Einführungstext erscheint, sobald die geographische Auswahl getroffen wurde. Zentrale, darin behandelte Begriffe werden in der linken Spalte aufgegriffen und ermöglichen anhand von vier vorgegebenen Kategorien ein vertiefendes Eindringen in die Thematik:

Ereignisse bietet weitere – frühere und spätere - historische Fallbeispiele an, die die angesprochenen Fragestellungen tangieren.

Kontexte verlinken das jeweils angewählte historische Faktum mit ausführlicheren Überblicksartikeln und binden damit das individuelle Handeln in größere gesellschaftliche Zusammenhänge ein. Die 18 im Moment verfügbaren Darstellungen umfassen „klassische“ historische Subkategorien wie Religion, Kultur, Geist, Politik und Frühkapitalismus ebenso wie die spezifischeren Gebiete Hofkultur im 16. Jahrhundert, Korrespondenznetzwerke und Kommunikationsprobleme der Konquistadoren. Aufgrund ihrer Beschränkten Anzahl werden sie sehr freigiebig angeboten, zT sind die Verbindungslinien nicht auf den ersten Blick nachzuvollziehen - so kann es schon einmal passieren, bei einem den Buchhandel betreffenden Ereignis den Kontext ‚Musik’ vorzufinden.

Vorerst wenige Themenkomplexe werden auf der Rezeptionsebene durch die Jahrhunderte hindurch verfolgt. Bilder und Interpretationen von historischen Ereignissen und Persönlichkeiten werden darin in ihrer zeitabhängigen Konstruiertheit erschlossen – im geschichtswissenschaftlichen Diskurs wie in diversen künstlerische Medien.

Als weitgehend abgeschlossener Punkt, der nicht direkt auf das einzelne historische Ereignis reagiert, präsentieren sich die Reflexionen. Es ist jener Bereich, der eine Metaebene einzieht – abstrakt in Form von wissenschaftstheoretischen Essays, die sich im weitesten Sinne mit Fragestellungen zum Medium Internet auseinandersetzen, konkret in Form persönlicher Erfahrungsberichte, die die Entstehung von pastperfect.at als kollektiven Arbeitsprozess von Beteiligten aus sehr heterogenen Kontexten schildern. Viele der Essays erfordern ein beträchtliches Maß an Hintergrundwissen und stehen damit in krassem Gegensatz zum Rest der Seite, die sich – laut Eigenbeschreibung – ganz ohne Scham der populären Wissensvermittlung widmet. Die extreme Diskrepanz im Anspruchsniveau der Vermittlungs- und Reflexions-Seite resultiert in einem Ungleichgewicht mit negativen Beigeschmack. Vielleicht hätte zumindest der Versuch eines etwas demokratischeren Zugangs unternommen werden können. BesucherInnen, von denen angenommen wird, ihnen müsse erklärt werden, dass Töchter aus aristokratischen Familien des Öfteren Objekte der dynastischen Heiratspolitik waren, werden mit den abstrakten, selbstreferentiellen Essays (etwas jenem zu ‚Zeitkreuzungen’) wenig anzufangen wissen.

Zusätzlich helfen Biographien, Glossar, Bildbeispiele und eine Suchfuntion bei der Durchdringung des gewählten Bereichs.

Fallbeispiel und methodologische Grundlagen: 1500 gründet Johanna von Valois in Bourges den Orden der Annunziantinnen. Schon im Text zum Ereignis selbst wird die Ordensgründung mit Fragen der Ständegesellschaft und des Handlungsspielraums von Frauen am Anfang des 16. Jahrhunderts in Bezug gesetzt. Das Navigationssystem ermöglicht der BesucherIn nun als imaginäre Europareisende den Akt Johannas mit gänzlich anderen Ereignissen desselben Jahres zu vergleichen, ähnlich beschlagwortete Ereignisse eines anderen Jahres anzuwählen (etwa die 1523 stattgefundene Flucht der späteren Ehefrau Luthers aus einem sächsischen Kloster) oder einen Kontextartikel zum Status der Frau in der Frühen Neuzeit abzurufen. Dass unter Rezeption das nicht eben benachbarte Thema der ‚Humanistischen Erziehungsliteratur’ aufscheint, ist paradigmatisch für den hier verfolgten Zugang zu Wissensvermittlung. Wer abgeschlossene thematische Subeinheiten erwartet, sucht vergeblich. Das nicht-lineare Hypertextwerk fingiert als Antithese zur ‚großen historischen Erzählung’. Pastperfect.at will eine Vielzahl von Zugängen, Betrachtungsweisen und Kontextualisierungen eröffnen. Die Reiseroute ist nicht vorgegeben, assoziativ und endet im besten Fall in einem gänzlich neuen Blickwinkel auf ihren Ausgangspunkt.

Die Verantwortlichen vertreten die keineswegs mehr revolutionäre These, dass das Medium nicht bloß eine neutrale Hülle für die vermittelten Inhalte darstellt, sondern strukturierend eingreift. Durch die Etablierung eines Netzwerkes, in dem sich die LeserIn weitgehend frei bewegen kann, in dem verschiedene Perspektiven zugänglich sind, in dem Ereignisse der politischen Geschichte gleichwertig mit kunst- und kulturgeschichtlichen Inhalten präsentiert werden, in dem Gleichzeitigkeit und Vereinzelung eine ebenso wichtige Rolle spielt wie Bezüge und Verbindungen ist pastperfect.at eine Fallstudie zur Rolle des Mediums selbst.

Die in der Projektbeschreibung und einigen Reflexions-Essays postulierte Macht der RezipientInnen, die ihren Weg durch die Geschichte anhand ihres eigenen Erkenntnisinteresses wählen können (die Verschiebung des Handlungsspielraums vom Sender zur EmpfängerIn) sehe ich jedoch nur bedingt. Die Grundelemente sind und bleiben Texte, und auch wenn ein Kollektiv von WissenschaftlerInnen an ihnen gearbeitet hat, besteht dieses Kollektiv dennoch aus Menschen, die sich mit dem grundlegenden methodischen Ansatz der Seite identifizieren können. Die differierenden Ansätze und Ambivalenzen sind schon aufgrund der Kürze der Texte nicht nachzuvollziehen. Es fällt um einiges leichter anhand von zwei beliebigen Büchern zu einer Thematik die gesellschaftliche Bedingtheit von historischem Wissen zu erkennen, als anhand des didaktischen Bereiches von pastperfect.at.
Ohne die Expansion der Freiheit der LeserIn zu verkennen, glaube ich dennoch, dass es – hehre Ziele hin oder her – manchmal gefährlich sein kann, den Anschein zu erwecken, hierarchiefreies Wissen zu vermitteln.

BenutzerInnenfeundlichkeit: Pastperfect.at ist eine wunderschön gestaltete Seite, aber dem ersten, einladenden ästhetischen Eindruck folgt die Desillusionierung: Verhältnismäßig lange Wartezeiten zwischen den Aktionen (bedingt durch die Flashanimation) und eine Unübersichtlichkeit, die eine nicht zu verachtende Einstiegshürde darstellt. Vielleicht ist die anfangs erzeugte Konfusion Programm, vielleicht ist sie eine Hommage an die denkenden UserInnen, denen entweder zugetraut wird, Ordnung in das Chaos zu bringen oder das Chaos (als positiv gewertete Unordnung) als Grundprinzip zu umarmen – gleichzeitig trägt sie aber auch zu Anspannung und Frustration bei – nicht die besten Voraussetzungen für ein didaktisches Medium auf EinsteigerInnen-Level.
Trotz ihrer Kürze erfordern die meisten Texte durch ihre Anordnung im unteren Drittel des Bildschirms zumindest am Laptop lästiges scrollen, die manuelle Navigation via Zeitrad ist ungenau, das Weiterklicken durch die Jahre zeitaufwändig und dass sich so wichtige features wie Projektbeschreibung, Literaturliste und Druckfunktion unter leeren Quadraten verbergen trägt auch nicht zur UserInnenfreundlichkeit bei. Besonders schwer zugänglich gestaltet sich der Rezeptions-Punkt mit seiner undurchsichtigen, an einem Koordinatensystem angelehnten Anordnung der Themen bzw. Jahreszahlen, und auch die Systematisierung der fast nicht mehr lesbaren Reflexions-Thematiken wird visuell komplizierter als nötig umgesetzt. Wenn die Medienphilosophie die einfache Beziehung ‚form follows function’ nicht dekonstruiert hätte, würde mein Verdikt lauten: Hier wurde einiges an Potential dem äußeren Erscheinungsbild geopfert.

hp_pp_rezeption hp_pp_reflexionen Thumbnail des Rezeptions- und Reflexions-Bereichs





Fazit: Demontage simpler historischer Kausalität, Vermittlung verschiedenster Geschichtsabläufe und völlige Abkehr von fachinterner Hierarchisierung (der Erbvertrag Habsburg-Ungarn wird auf gleicher Ebene wie die Herausgabe eines Werkes zur Frauenheilkunde behandelt) sind sinnvolle methodische Ansätze und Entscheidungen, wenn sie auch längst kein Schattendasein innerhalb des geschichtswissenschaftlichen Diskurs mehr fristen. Interdisziplinäres Arbeiten, Offenlegung des theoretischen Hintergrundes und das Aufzeigen der Rezeptionsgeschichte weit über die eigentlich bearbeiteten historischen Zeitabschnitt hinaus – alles Voraussetzungen für eine spannende, gut durchdachte didaktische Seite. Selbst das Springen zwischen kurzen Texten (dem ich persönlich nichts abgewinnen kann) vermittelt vermutlich vielen BesucherInnen das lustvolle Gefühl sich auf einer selbstgesteuerten Entdeckungsreise mit unklarem Ausgang zu befinden.
All dies leidet unter der Usability-Problematik, die nur zum Teil durch die ebenfalls zugängliche Textversion entschärft werden kann.
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